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Der Sündenbock in einer narzisstischen Familie

In diesem Artikel werden folgende Themen besprochen:

 

- Was ist die Funktion des Sündenbocks in einer narzisstischen Familie?

- Nach welchen Kriterien wird der Sündenbock gewählt?

- Welches sind die Folgen für Menschen, die diese Rolle übernehmen mussten?

      - Weiß deine Familie, dass sie dich zum Sündenbock macht?

      - Warum bist du auch nach Jahrzehnten noch der Sündenbock? 

 

Der Begriff Sündenbock stammt aus der Bibel. Man hat früher, bevor Jesus als Stellvertreter für die Sünden der Menschen am Kreuz starb, regelmäßig alle Schuld auf einen Ziegenbock über Handauflegung geladen und diesen samt der übertragenen Schuld in die Wüste geschickt. Der Sündenbock trägt also die Schuld anderer Menschen auf seinen Schultern. Er bekommt die Verantwortung für die Fehler der Familie aufgehalst.

 

Der Sündenbock innerhalb einer narzisstischen Familie ist ein Kind, welches die Schuld für sämtlichen Ärger in der Familie aufgehalst bekommt. Es wird vernachlässigt und bei jeder Gelegenheit eingeschüchtert und abgewertet.

 

 

Funktion des Sündenbocks:

 

-     Er dient in erster Linie als Projektionsfläche für den Selbsthass, die Wut, Schuld und Enttäuschungen des narzisstisch gestörten Elternteils. Aber auch für innerfamiliäre Probleme und für Dinge, die das goldene Kind falsch gemacht hat, wird er zur Rechenschaft gezogen. Im Grunde immer dann, wenn der Narzisst mit Emotionen konfrontiert wird, mit denen er nicht umgehen kann. Der Narzisst entlastet sich von diesen Gefühlen, indem er sie auf den Sündenbock projiziert. Wichtig zu wissen ist, dass es nicht die Schuld des Kindes ist, wenn es als Sündenbock missbraucht wird. Es wird von dem narzisstisch gestörten Elternteil in diese Rolle gedrängt. In Wirklichkeit ist dieses Kind ein genauso begabtes Kind wie alle anderen Kinder auch.

 

-      Er dient als Ablenkung größerer Probleme in der Familie. Er soll ablenken von den tiefen emotionalen Problemen, die jeder aus dieser Familie hat. Indem der Blick auf den Sündenbock gerichtet ist, muss keiner bei sich selbst hinschauen.

Vor allen Dingen soll der Blick vom narzisstischen Elternteil weg und auf den Sündenbock gerichtet werden, damit er nicht als pathologisch entlarvt wird.

 

-       Er schafft ein Einheitsgefühl innerhalb der Familie. Alle kämpfen vereint gegen eine Person. Dass das unfair, gemein und falsch ist, wird außer Acht gelassen.

 

-   Weiterhin dient er dem narzisstischen Elternteil als Geißel, damit sich der Rest der Familie nicht genauso wie der Sündenbock gegen sie auflehnt. Das Sündenbockkind ist oft ein Kind, das das falsche Bild des Narzissten durchschaut hat und dafür bestraft wird. 

 

 

Nach welchen Kriterien wird der Sündenbock ausgewählt? 

 

Es gibt verschiedene Theorien, mit denen versucht wird, zu erklären, warum ein Kind zum Sündenbockkind gewählt wird. In meinem Buch „Narzissmus in der Familie – Untersuchung eines Verbrechens“ schreibe ich Folgendes:

 

„Es gibt verschiedene Theorien, mit denen versucht wird zu erklären, warum ein Kind zum Sündenbockkind gewählt wird. Darunter ist zum Beispiel die Annahme, dass das Kind besondere Stärken hat und jemand ist, der keine Scheu davor hat, das Familiengeheimnis zu lüften. Das Geheimnis, dass Missbrauch in der Familie herrscht. Es erkennt, dass die Familiendynamik ungesund ist und äußert dies. Es hat auch den Mut, für andere Familienmitglieder einzustehen, die ungerecht vom Narzissten behandelt werden. Der narzisstische Elternteil wird wütend, weil seine Grandiosität und das Bild von der perfekten Familie, an das er glaubt, hinterfragt wird. Die narzisstische Wut wird geweckt und diese macht auch vor den eigenen Kindern keinen Halt. Auf der anderen Seite gibt es die Überlegung, dass das Kind unter einer Beeinträchtigung leidet oder eine Behinderung hat. Eine weitere Theorie greift die Möglichkeit auf, dass das Kind den narzisstischen Elternteil an eine unangenehme Person oder eine schwierige Situation erinnert. Was auch immer der Grund für die Auswahl gewesen sein mag, es gibt verschiedene Eigenschaften, die bei fast allen Sündenbockkindern zu finden sind. Diese sind Willensstärke, Gerechtigkeitsstreben, Einfühlsamkeit (es sind oft die einfühlsamsten Familienmitglieder), Schuldanfälligkeit, emotionale Reaktivität (dies macht es hier für den Narzissten am attraktivsten, weil es hier am meisten „Gefühlsenergie“ abzuzweigen gibt) und allen Dingen voran: eine hohe Sensibilität.“

 

Die meisten Sündenböcke brechen den Kontakt zur Familie ab, weil das der einzige Weg ist, um der ständigen Kritik und dem psychischen und emotionalen Missbrauch ein Ende zu setzen.

 

 

Spätfolgen:

 

-        Innere Unsicherheit. Diese Kinder wurden ständig verunsichert. Sie konnten nichts richtig machen und wurden permanent als defekt deklariert. Erinnerungen wurden als Einbildungen abgetan und Gefühle als nicht berechtigt. Zusätzlich hat sich der narzisstische Elternteil vor den anderen als hilfsbereite, zugängliche und liebevolle Person präsentiert, was das Kind an seinen gewaltvollen Erfahrungen zweifeln ließ.

 

-        Ein Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung, weil diese durch das Gaslighting konsequent abgearbeitet wurde.

 

-       Toxische Beziehungen (Liebesbeziehungen, Freundschaften, Arbeitsbeziehungen). Eine hohe Toleranz für missbräuchliches Verhalten und ein erst sehr spätes Erkennen, dass die Beziehung ungesund ist. Sündenböcke wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, wie eine gesunde Beziehung aussieht. Daran muss gearbeitet werden. Ein Therapeut kann dabei helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, gesunde Beziehungen zu erkennen.

 

-        Dauerhaftes Schuldgefühl und das Gefühl schlecht zu sein, denn der Sündenbock glaubt das, was der narzisstische Elternteil über ihn ausspricht.

 

-        Mobbing in der Schule, weil diese Kinder mit ihrer Unsicherheit das perfekte Opfer von weiteren Sadisten darstellen.

 

-        Immer wieder zum Sündenbock gemacht werden in Freundschaften mit ähnlich strukturierten Charakteren wie die in der narzisstischen Familie.

 

-        Schwierigkeiten beim Grenzen setzen.

 

-        Niedriges Selbstbewusstsein.

 

-        Das Gefühl, nie gut genug zu sein.

 

-        Konzentrationsprobleme.

 

-        Gesteigerte Sensibilität, weil Sündenböcke darauf trainiert wurden, hoch achtsam zu sein. Zuhause konnte jeder Zeit die Bombe platzen.

 

-        Ein sich nicht vorstellen können, dass die eigenen Freunde einen lieb haben. Denn wie soll mich jemand mögen, wenn mich meine Eltern/Familienmitglieder nicht mochten?

 

-        Depressionen, Panikstörung, Probleme mit dem Essen und vieles mehr.

Weiß deine Familie, dass sie dich zum Sündenbock macht?

Die Familienmitglieder besitzen nicht die psychische Gesundheit, um zu sehen, dass eine gewaltige Schräglage herrscht. 
Während man sagt „Kind X ist psychisch nicht in Ordnung, wegen dieses Kindes haben wir nur Probleme!“ müssen die
individuellen Familienmitglieder nicht auf ihre eigenen psychischen Probleme oder die Tatsache schauen, dass die Familie
nicht gesund ist. Es wird tatsächlich geglaubt, dass Kind X verantwortlich für den Unfrieden der Familie ist,
inklusive dem Sündenbock selbst.

In den meisten Fällen weiß die Familie also nicht, dass sie ein Kind zum Sündenbock macht. Sie glaubt tatsächlich an den Defekt, den sie dem Sündenbockkind zuschreibt. Die anderen Familienmitglieder ahmen den Narzissten nach, so wie jede Gruppe seinen Führer als Vorbild nimmt.

 

Anders sieht es bei Narzissten aus, die Tendenzen in Richtung malignen Narzissmus aufweisen. Diese können ganz genau wissen, was für ein Unrecht sie tun und handeln aus der Freude an der Verletzung, die sie dem Sündenbockkind zufügen. Je giftiger die Familie/die einzelnen Familienmitglieder, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Mobbing bewusst geschieht.

Wenn ein Sündenbock sich irgendwann zu Wort meldet und den Missbrauch beim Namen nennt, kann es gut möglich sein, dass die Familie sich vereint gegen den Störenfried auflehnt und sich als das Opfer sieht. Die Familie fühlt sich dann zum Sündenbock gemacht.

 

 

Warum es nach Jahrzehnten noch so ist, dass du der Sündenbock bist

 

Da ein Narzisst seine Fehler nicht sehen kann, wird er immer den Weg über den Sündenbock gehen. Sich Fehler einzugestehen gehört nicht zu den Fähigkeiten eines Narzissten.

Deshalb wird der Sündenbock auch Jahrzehnte später in den Augen des Narzissten als falsch abgestempelt werden. Die restliche Familie stellt die Sichtweise des Narzissten nicht in Frage und tut es ihm gleich.

 

Bevor eine Person aus der Familie die Erkenntnis bekommen könnte, dass das Sündenbockkind vielleicht doch nicht so schlecht ist, wie der Narzisst sagt, müsste diese Person zuvor den Narzissten und sein Verhalten in Frage stellen. Und das geschieht nicht so leicht. Meistens setzen alle Familienmitglieder einen grünen Haken an das Verhalten des Narzissten, auch dahingehend, wie dieser mit dem Sündenbockkind umgeht.

 

Ich denke es geschieht auch im Rahmen der Verleugnung. Jedes Familienmitglied in einer narzisstischen Familie erlebt emotionalen Missbrauch, auch wenn es den Sündenbock am stärksten trifft. Jedoch ist nicht jeder aus einer solchen Familie stark genug, diesen Missbrauch zu sehen. Sie müssen das Sündenbockkind weiterhin als schlecht ansehen, damit nicht der echte Kern des Problems gesehen wird. Angenommen ein Familienmitglied aus einer narzisstischen Familie würde aufwachen und sagen, dass Kind X gar nicht so schlecht ist und dass der Narzisst hier eine falsche Sicht auf die Dinge hat, dann würde die jeweilige Person im nächsten Schritt vielleicht auch anerkennen (müssen), dass der Narzisst in vielen anderen Bereichen auch nicht richtig agiert und womöglich einen Missbrauch aufdecken, der ihn selbst betrifft. Dazu sind viele nicht in der Lage.

 

Hinzu kommt, dass die Familie es gewohnt ist, die Schuld auf das Sündenbockkind zu schieben. Sie hat von klein auf indoktriniert bekommen, dass das Sündenbockkind defekt ist.

 

 

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